Kurzgeschichten

Gaukelei

 

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Das ist gerade nicht wirklich passiert! Das kann nicht sein! Physikalisch unmöglich! Nie! Dafür gibt es eine logische Erklärung! Ich bin nicht wirklich hier, zum Beispiel. Ich bin noch auf der Arbeit und über meinem Schreibkram eingepennt. Manche Träume wirken ja verdammt real. Aber so real, dass ich die defekte S-Bahn-Toilette riechen kann? Nee, kann nicht sein. Kann einfach nicht … Das geht nicht! Ein Mensch kann nicht einfach durch mich hindurchlaufen!

Dieser Mensch … Verdammt! Er ist ausgestiegen!

Schnurstraks durch mich hindurch und … Nein, das kann nicht sein! Das Zischen hinter mir … Ich muss mich umdrehen und hier raus, ehe die Tür schließt. Umdrehen. Nach ihm. Ich will endlich mit ihm sprechen. Herausfinden, wer er ist. Hätte ich schon machen sollen, als ich ihn das erste Mal sah.

Das erste Mal. Vor drei Wochen. An einem Mittwoch. Als er dieselbe S-Bahn nahm wie ich. 17:01. Hat mich gleich gewundert. Weil er mich an E. erinnerte. Der aber am entgegengesetzten Ende der Stadt wohnt. Und arbeitet. Der normalerweise um diese Uhrzeit nicht nach Hause, sondern zur Arbeit fahren würde. Woher will ich wissen, dass dieser Mensch nicht ebenfalls zur Arbeit, sondern stattdessen nach Hause fährt? Woher, wenn ich ihn nicht anspreche? Wollte ich ja. Damals schon. Tat ich aber nicht. Stattdessen warf ich verstohlene Blicke zu ihm hinüber, während wir neben den einander gegenüberliegenden Türen standen, er in ein handliches Buch mit grauem Einband vertieft, dessen Titel ich nicht entziffern konnte. Irgendwas Slawisches wohl, denn ich entdeckte ein Я. Mindestens.

Aber sicher bin ich mir auch jetzt, drei Wochen später, noch nicht. Hätte mehr darauf achten sollen. Versuchen sollen, über die Schreibweise oder den Titel, so ich ihn hätte entziffern können, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Aber ist mir das beim ersten Mal schon aufgefallen? Oder doch erst gerade eben? Ist das jetzt so wichtig? Jetzt, wo ich mich nur noch umdrehen muss, um … was zu tun? Ihn anzusprechen? Zur Rede zu stellen? Warum er mich nicht erkannt hat? Wie sollte er? Er ist es nicht. Er ist nicht E. E. wäre nach Osten gefahren, nicht nach Westen. E. hätte mich erkannt. Und zumindest gegrüßt. Hätte er? Oder hat ihm der Streit, in dem wir vor zwei Jahren auseinandergingen, doch so sehr zugesetzt, dass er mich jetzt keines Blickes mehr würdigt?

Zischend schließt sich die Tür. Die letzte Gelegenheit. Rinnt durch die Finger. Wie die letzten beiden Male. Die letzten beiden Male, die ich mich nicht getraut habe, ihn anzusprechen. Die ich ihn nur hin und wieder anstarrte. Während er las. Dasselbe graue Buch. Neben derselben Tür in derselben S-Bahn zur selben Uhrzeit. Am selben Wochentag.

Merkwürdig ist das schon. Rückblickend betrachtet. Dass er mir immer nur mittwochs aufgefallen ist. Wo ich doch stets zur selben Zeit die Bahn nehme. Kein Gewohnheitstier wie ich? Flexible Arbeitszeiten? Oder ein Termin, der immer auf mittwochs fällt? Warum sehe ich ihn dann erst zum dritten Mal? Da stimmt was nicht. Hätte mir beim zweiten Mal schon zu denken geben sollen. Letzte Woche. Ich weiß nicht mehr, ob er beim ersten Mal schon am selben Halt ausstieg wie ich. Hatte nicht darauf geachtet. Aber letzte Woche. Da stand er plötzlich direkt hinter mir, als die Bahn zum Halten kam. Ich betätigte den grün leuchtenden Knopf. Vernahm das vertraute Zischen der Türen. Meine Füße berührten die erhöhte Bordsteinkante der Haltestelle und ich fühlte, wie er sich seitlich an mir vorbeischob. Meinte zu fühlen. Denn als ich meinen Blick zur Seite schweifen ließ, war da niemand. E., nein, nicht E., der, der wie E. aussah, war verschwunden. Und ich kam mir lächerlich vor. So wie jetzt auch.

Dreh dich um, verdammt! Warum drehst du dich nicht um? Weil ich nicht fassen kann, dass gerade passiert ist, was da gerade passiert ist. Das kann einfach nicht sein! Menschen können nicht einfach … Ist er denn ein Mensch? Heute ist der 31. Oktober. Der Tag vor Allerheiligen. Der Tag, an dem die Toten wandeln. Geister. Wiedergänger. So ein Unsinn! Sag mal, spinnst du jetzt völlig? Hast du schon Wahnvorstellungen? Dreh dich um, dann wirst du schon sehen!

Was werde ich dann sehen? Dasselbe hohle Gesicht wie vorhin?

Heute habe ich ihn zum dritten Mal gesehen. Ihn, der aussieht wie E. und doch nicht E. ist. Der seit drei Wochen jeden Mittwoch in denselben Wagen derselben S-Bahn einsteigt und an derselben Stelle in derselben Haltung dasselbe Buch liest. Dasselbe graue Buch mit dem pseudo-kyrillischen Titel. Der kein einziges Mal aufblickt. Keine Miene verzieht. Bei dem nicht die kleinste Bewegung andeutet, dass er überhaupt lebt.

Wie die letzten beiden Male, so begann auch heute mein Herz zu rasen, meine Gedanken darum zu kreisen, wie ich ihn am besten ansprechen könnte. Ob ich es tun sollte. Oder lieber lassen. Meine Blicke flogen unablässig zu seiner Spiegelung in der Scheibe, während draußen Station um Station vorüberflog. Schrill bremsend kam die Bahn an meinem Ziel zum Halt. Ich atmete tief durch. Erhob die Hand, um den Knopf zu drücken. Ließ sie sinken, als ich den Schatten einer Bewegung hinter mir wahrnahm. Nein! Nicht schon wieder!, beschloss ich. Ich würde ihn ansprechen. Jetzt. In diesem Moment. Ihn, der E. war und auch wieder nicht, fragen … Ja … was?

Wie in Zeitlupe zog ich meine steifen Finger von der Tür fort. Drehte mich zu ihm um. Quälend langsam, als hielte mich etwas fest. Als wollte mich etwas davon abhalten, mich ihm zuzuwenden. Kaum war die halbe Drehung vollendet, schwand der Widerstand. Ich hob den Kopf, um ihn anzusehen. Fühlte den Ruck, als etwas riss, das mich mit der Welt da draußen verband. Haltlos wehte der Faden davon. Und ich blickte in ein leeres Gesicht. Reglos. Ohne das geringste Zeichen von Erkennen. Er hielt auf mich zu, als gäbe es mich nicht. Ich setzte an, etwas zu sagen. Worte formten sich in meinem Kopf und verhallten unausgesprochen. Und dann glitt er durch mich hindurch. Einfach so.

Mein Verstand müht sich noch immer zu erfassen, dass es wirklich passiert ist. Dass dies kein Traum ist und ich nicht in einer Mischung aus Langeweile und Herbsttief über einem Stapel Unterlagen im Büro vor mich hin schnarche. Gerade, vor einer Ewigkeit, ist dieser Mensch wie ein Geist durch mich hindurchgegangen und ist hinter mir ausgestiegen. Und ich stehe noch immer wie unter Schock im leeren Abteil, mein Blick dumpf auf die mir gegenüberliegende Tür gerichtet und sie doch nicht sehend. Meine Gelegenheit ist vertan. Die letzte. Ich drehe mich um. Blicke in die geschlossene Tür. Noch leuchtet der Knopf grün. Die Hand schnellt nach vorne, will ihn betätigen. Erreicht ihn nicht. Die Tür bleibt geschlossen. Jeder Versuch schlägt fehl. Die Tür direkt vor mir und doch in unerreichbarer Ferne. Wie hinter Glas. Verzweifelt blicke ich nach draußen, wo ich erwarte, diesen Menschen, der E. ist und auch wieder nicht, davoneilen zu sehen im dunkler werdenden Licht des spätherbstlichen Nachmittags. Doch stattdessen sehe ich … nichts. Dunkelheit. Pechschwarze Nacht. Keine Lichter. Kein Spiegelbild in der Scheibe.

Ich drehe mich zur gegenüberliegenden Tür um, hinter der ebenfalls Schwärze gähnt. Dann dreht sich alles, als das Blut in meinen Adern die Richtung ändert, in die es gepumpt wird. Ewigkeiten vergehen, ehe das Klopfen hinter meinem Rücken das Rauschen in meinen Ohren durchdringt. Ich erahne den Schemen in der Scheibe mir gegenüber und will mich nicht umdrehen. Will nicht hinsehen. Zäh wende ich meinen Körper der Tür zu, durch die ich bis vor Kurzem tagtäglich diese Bahn verließ. In der Scheibe sehe ich die Spiegelung. Meine. Nicht meine. Ihre.

Die Tasche hängt über der falschen Schulter. Die Spiegelung, meine Spiegelung, legt den Kopf schief. Was ich nicht tue. Zu gerne würde ich glauben, dies sei ein Traum. Mein Kinn bebt. In meinem Hals bildet sich ein Kloß. Hinter der Spiegelung taucht er auf, der E. ist und doch nicht E. Er nimmt Notiz von mir. Nickt. Seine Miene in der Scheibe jedoch so verschwommen, dass ich sie nicht deuten kann. Er greift in seine Tasche. Holt das graue Buch hervor. Die Schrift ist nicht kyrillisch. Es sind lateinische Buchstaben. Zu verschwommen jedoch, um sie zu entziffern. Auf mein Blinzeln hin holt auch mein Spiegelbild ein Buch hervor. Dasselbe Buch. Handlich. Grau. Darauf prangen deutlich lesbare Lettern.

Das kann doch nicht sein! Unmöglich!

Sie sind im Spiegel, nicht ich!

Dieses Mal erkenne ich das Grinsen auf beiden Gesichtern in der Scheibe. Ich greife in meine Tasche, obwohl ich weiß, dass kein Buch sich darin befindet. Dass kein Buch sich darin befinden kann.

Meine Finger berühren Leder.

Schließen sich um einen festen Einband.

Holen das Buch, das nicht in meiner Tasche sein dürfte, daraus hervor.

Ich drehe es in meiner Hand. Ich muss den Titel nicht lesen, um zu wissen, dass er auf meiner Ausgabe spiegelverkehrt geprägt ist. Starr vor eisigem Grauen hebe ich den Kopf, um ein letztes Mal meinem Spiegelbild in die toten Augen zu blicken. Ich starre auf das Buch auf der anderen Seite des Spiegels und lese den Titel.

MIROITER.

Sie ist es, denkt T.

Sie ist es. Und auch wieder nicht.

Schon vergangenen Donnerstag  hat sie diesen Zug genommen. Dabei fährt der doch nach Norden und sie lebt, soweit er weiß, im Süden. Dennoch. Sie sieht ihr so verdammt ähnlich. Aber sie würde ihn doch erkennen. Oder? Was, wenn es Gründe gibt, warum er sie all die Jahre nie wieder gesehen hat? Was, wenn sie sich gar nicht an ihn erinnert? Er überlegt, sie anzusprechen. Aber was, wenn sie es nicht ist? „Du erinnerst mich an eine frühere Bekannte“ könnte ihm als plumpe Anmache ausgelegt werden.

Wieder schielt T. zu ihr hinüber. Das Buch! Er könnte über das Buch mit ihr ins Gespräch kommen. Schnell! Ehe sie wieder aussteigt! Wer weiß, ob sich diese Gelegenheit wieder bietet!

In dem Moment, da T. Mut fasst und sich erhebt, kommt der Zug zu einem ruckartigen Halt. Allein die schiere Masse an ihm vorbei hastender Menschen verhindert, dass T. der Länge nach zu Boden geht. Einsteigende ziehen ihn mit sich, schwemmen ihn fort von der Tür. Fort von ihr. Die aussieht wie sie. Und auch wieder nicht. Die wohl bereits ausgestiegen ist. Denn T. kann sie nirgends entdecken. Auch nicht draußen auf dem Bahnsteig.

Einen tiefen Seufzer ausstoßend, lässt T. sich auf einen freien Platz fallen. Aller guten Dinge sind drei. Wenn das Glück ihm hold ist, fährt sie kommenden Donnerstag wieder zur selben Zeit mit. Beim Gedanken daran erschaudert er, ohne zu begreifen, warum.

♠♠♠

MIROITER – ЯƎTIOЯIM

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  miroiter (frz.) = spiegeln, blitzen, funkeln, glänzen, glitzern, schillern

faire miroiter qc. à qn. = jmdn. mit etw. locken, jmdm. etw. vorgaukeln; jmdm. etw. in den leuchtendsten/verlockendsten Farben ausmalen/schildern

faire miroiter qc. aux yeux de qn. = jmdm. etw. in den leuchtendsten/verlockendsten Farben ausmalen/schildern; jmdm. etw. vorspiegeln

Die Idee formte sich am 26. 10. 2018, den Plot erstellte ich am 27. 10. 2018. Am selben Tag begann ich zu schreiben, begleitet von stimmungsvoller Musik. Ambient wirkt auf mich im Normalfall eher verstörend, weshalb es mir nur passend erschien, mich damit in die richtige Schreibstimmung zu versetzen. Diese Stimmung erzeugten am ersten Tag der mittlerweile aus urheberrechtlichen Gründen gelöschte „Afterglow“ Ambient Mix und am zweiten Tag der „Infinite“ Ambient Mix.  Die Rohfassung umfasste schließlich 1715 Wörter bzw. 8645 Zeichen**. Aus Zeitmangel am 29. und 30. 10. ließ ich den Text bis kurz vor der Veröffentlichung ruhen und setzte mich erst heute daran, letzte kleinere Ausbesserungen vorzunehmen. Das Ergebnis ist diese aus 1738 Wörtern bzw. 8744 Zeichen** bestehende Kurzgeschichte.

**Ohne Leerzeichen.

3 Gedanken zu „Gaukelei“

  1. Man hätte gern noch Weiteres erfahren, wieso, weshalb, wie kam es dazu, wie unterscheiden sichdie Persönlichkeiten der Spiegelwelt von denen der Realwelt oder warum das Erkennen voneinander in der Realwelt blockiert ist, und der Spiegelung bedarf – auch Fragen, wie ob die Spiegelperson eine andere sei, als die Reale, hier von Ebenen die Rede ist, die durch die Personen Verbindung erfahren. Ähnlich wie bei gekoppelten Teilchen/Antiteilchen die Verschränkung. Daran hat es mich etwas erinnert. Man könnte diese Idee ausbauen. Danke für die Spannung und den Ausflug ins Inspirative ;o)

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    1. Schön, dass meine Geschichte dich zu so vielen Gedanken anregt. Vielleicht möchtest du diesen in einer eigenen Geschichte nachgehen? Wäre spannend herauszufinden, welchen Ursprung diese Spiegelungen haben.
      Ich wollte diese Dinge bewusst offen lassen, zumal Kurzgeschichten im Gegensatz zu Romanen davon leben, dass so manche Fragen unbeantwortet bleiben 😉

      Gefällt 1 Person

  2. Ich war, wie du schon weißt, per Besuch inkonveniert, daher mit Verspätung Lob für dieses fiese kleine Geschichtchen. Du hast mich echt gefesselt.

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