„Die Schuhmaus wusste auch, dass das Zylinderkabinett überall und nirgends war und dass die Eingänge so einfach wie magisch waren: Kisten. Zylinder. Manteltaschen. Jackenärmel. Der Käfig eines Kaninchens.“
Fabienne Siegmund
Das Zylinderkabinett oder Das Mädchen, das dort nicht hingehörte
26. 03. 1343.
Lihtetag.
Schonungslose Abscheulichkeit.
Das mochte übertrieben klingen, bezogen auf das Rascheln, das Runna an diesem Lihtetag aus traumlosem Schlaf weckte. Und auch wieder nicht, bedachte er den Zustand, in dem sein Schädel sich befand. Dem das mal ab-, mal anschwellende Rascheln in einer unübertrefflichen Penetranz einen schmerzhaften Schlag nach dem anderen versetzte. Den Vorsatz, nie wieder portianischem Maulbeerenbrand zu frönen, fasste er erst gar nicht, würde er ihn doch schwerlich einhalten können. Schon gar nicht in entsprechender Gesellschaft wie der gestrigen.
Gegen bleierne Schwere kämpfte Runna sich in sitzende Position und bemühte sich, sich seiner Umgebung bewusst zu werden. Er befand sich in seinem Büro, soviel war klar. Unter seinen Händen fühlte er das Polster seines Liegesofas. Weil aber sein unteres Lid noch nicht so recht davon überzeugt zu sein schien, dass er nicht mehr schlief, blieb ihm vorerst nur das Züngeln, um eine Ahnung davon zu bekommen, wer oder was dieses peinigende Rascheln verursachen mochte.
Keiner seiner gestrigen Bettgenossen, soviel stand fest. Denn deren Geschmäcker, die ihn am Abend beinahe trunkener gemacht hatten als die gemeinsam genossenen geisthaltigen Getränke, hatten sich schon weitgehend verflüchtigt. Wann sie Runna verlassen hatten, vermochte er nicht zu sagen. Es würde ihn nicht wundern, hätte er zu diesem Zeitpunkt bereits tief und fest geschlafen.
Aus dem vorderen Bereich seines Büros meinte Runna ein Grunzen gehört zu haben. Allmählich nahm der Raum schlierige Konturen an, während sich der Schleier seines unteren Lides träge öffnete und dabei das innere Lid mit sich zog. Sobald diese Schlieren damit aufhörten, ineinander zu verlaufen, würde er sich von seiner Schlafstatt erheben und den Ursprung dieser Kopfschmerzverstärkung ausfindig machen. Vielleicht ließ sich bei der Gelegenheit auch her-ausfinden, was der Unbekannte hier zurückgelassen hatte. Er musste etwas zurückgelassen haben. Anders ließ sich nicht erklären, dass dessen Geschmack noch einen Hauch stärker in der Luft hing als der seines Lieblingskellners Paolo.
Schwankend kam Runna auf die Beine, wobei er den Sümpfen zum wiederholten Male dafür dankte, über einen Schwanz zu verfügen, mit dem sich einiges ausgleichen ließ.
Er vermied den Blick auf den Chronometer. Seine erste Unterrichtsstunde begann erst nach der Großen Pause. Kein Grund also, sich unnötigerweise ein schlechtes Gewissen zu machen. Bis zur Pause bräuchte er allerdings ein Mirakel, sollte ihm niemand die ausgewachsene Katzenhorde anmerken, die sich auf seinem Schädel breitgemacht hatte.
Nein, die Finger vom Maulbeerenbrand würde er nicht lassen können; aber vielleicht sollte er zukünftig die vorläufig letzte Ausschweifung vor Beginn seiner fastenzeitbedingten Abstinenz nicht bloß auf den einen Abend davor konzentrieren, sondern auf mehrere Abende verteilen. Während er im vorderen Bereich seines Büros dem weiterhin hartnäckigen, nun aber leiseren Rascheln nachging, dem sich ein Scharren hinzugesellt hatte, erschien ihm dieser Vorsatz durchaus vernünftig. Ob er ihn würde einhalten oder sich gar im kommenden Jahr bei Herannahen der nächsten Fastenzeit noch daran würde erinnern können, stand auf einem anderen Blatt.
Kaum war er um einen der Sessel gebogen, knisterte es unter seinen Füßen. Eine Spur aus losen Seiten führte zu seinem Schreibtisch, unter dem soeben ein weiteres Grunzen ertönte. Es kam aus einer breiten Tasche, die vermutlich ursprünglich dort gelegen hatte, wo er auf das erste Stück Papier getreten war, und die wohl von dem darin herum Wühlenden im Eifer seines Tuns unter den Schreibtisch und bis gegen die Wand geschoben worden war. Damit hatte Runna nicht nur das Eigentum des Unbekannten, sondern gleichsam die Quelle jenes grausamen Lärms ausgemacht.
Seinem Zustand war die außerordentliche Schwerfälligkeit geschuldet, mit der er auf die Knie sank. Schon streckte er eine Hand nach der breiten Tasche aus, da krabbelte das, was zuvor noch darin gewühlt, geraschelt und gescharrt hatte, rückwärts aus ihr heraus. Beim Anblick des weißen Kaninchens wurde Runna schlagartig nüchtern.
Der Inhalt der Tasche hatte sich als herbe Enttäuschung herausgestellt. Nur Bücher und lose, be-schriebene Bögen Papier waren darin gewesen. Dabei konnte Puschkin doch überhaupt nicht lesen.
So vielversprechend hatte die Tasche ausgesehen, die er schon recht bald auf seiner Erhoppelung des Zimmers nebst anderen textilen Dingen auf dem Boden entdeckt hatte. Oft hatte er schon beobachtet, wie die magiewirkenden Zweibeiner saftige Möhren aus ebensolchen Taschen zogen, um ihn zu beloh-nen, nachdem er zuvor zum wiederholten Male durch einen Hut aus dem Zylinderkabinett herausge-zogen worden war.
Nun musste er feststellen, dass die Tasche wirklich rein gar nichts Schmackhaftes enthielt. Und dafür hatte er sich mit zitterndem Näschen und aufmerksamen Löffeln unter dem Sofa hervorgewagt, zu dem ihn eine Abzweigung des Zylinderkabinetts geführt hatte. Obwohl Puschkin bei seiner Ankunft nichts darunter vorgefunden hatte, musste es sich folglich um einen Ort handeln, an dem Magiewir-kende Dinge aufbewahrten.
Auch die Tasche enthielt nichts.
Jedenfalls nichts Essbares.
Seine Sicht auf Taschen und deren Inhalt würde er überdenken müssen.
Ziemlich hungrig kroch er rückwärts aus der Tasche heraus. Kaum, dass er sich herumdrehte, um den Rückweg anzutreten, blickte er in ein riesiges gelbes Auge.