„Wo kommst du denn her?“, fragte Runna das Kaninchen.
Das gab ihm keine Antwort, sondern presste sich an den Boden, die Ohren eng angelegt. Er warf einen Blick auf die Tasche, dann auf die auf dem Boden verteilten und zerknitterten Seiten. Den einstigen Inhalt. Wozu wohl auch das Kaninchen gezählt haben mochte. Ein anderer Weg, auf dem es hätte in sein Büro gelangen können, fiel Runna nicht ein.
Wiewohl er sich nicht entsinnen konnte, am gestrigen Abend auch nur einen Hauch des Nagetiers erzüngelt zu haben. Möglicherweise war er aber schlicht im »Rauen Ton« bereits zu betrunken gewesen. Diesen seinen Lieblingsort würde er am frühen Abend aufsuchen. Mit etwas Glück kehrte der Besitzer der Tasche heute ebenfalls wieder dort ein und er würde sie ihm zurückgeben können.
Mit gemächlichen Bewegungen – nur keine Anstrengung – machte sich Runna daran, die papiernen Bögen einzusammeln. Währenddessen warf er einen Blick auf das Kaninchen, das anscheinend zur Überzeugung gekommen war, dass von ihm keine Gefahr ausging, denn es hatte sich auf die Hinterbeine gesetzt und beobachtete sein Tun mit schräggelegtem Kopf.
Die Blättersammlung legte er auf den niedrigen Tisch, neben dem er kniete. Langsam, um das Tierchen nicht zu erschrecken, näherte er sich wieder seinem Schreibtisch. Dennoch zuckte das Kaninchen hektisch mit der Nase und duckte sich.
„Gestern hätte durchaus Grund zur Sorge bestanden, mein kleiner ungebetener Gast“, sprach Runna sanft. „Aber heute hat meine Fastenzeit begonnen.“
Das Kaninchen richtete sich ein wenig auf und wackelte mit den Ohren, als lauschte es aufmerksam.
„Das bedeutet, ich darf in den nächsten vier Wochen kein Tier verspeisen. Du hast also nichts zu befürchten.“
Das Klopfen des Hinterlaufs wirkte wie eine Art Beifall. Runna lachte bellend.
Und bereute es sofort. Ihn beschlich der Verdacht, dass noch weit mehr geflossen war als nur der Maulbeerenbrand.
Tatsächlich musste er nicht erst das Schränkchen öffnen, um eine Inventur seiner Vorräte vornehmen zu können. Die leeren Flaschen fanden sich im gesamten Büro, eine gar unter den Laken seines Sofas. Die noch den herben Duft von Paolo sowie die säuerliche Note des Unbekannten verbreiteten. Allerdings würde die Suche nach diesem noch eine Weile warten müssen. Fürs Erste war Aufräumen angesagt.
Und irgendwann stand ja auch noch Unterricht an. Das erinnerte Runna nun doch daran, einen Blick auf den Chronometer zu werfen. Für ein karges Frühstück bliebe noch ein wenig Zeit. Bei dem Gedanken ans Essen schweifte sein Blick zu dem Kaninchen.
„Was mache ich in der Zwischenzeit mit dir?“
Runna rieb sich das Kinn. Daraufhin legte das Tier ein weiteres Mal die Ohren an, so fürchterlich brüllte sein Magen mit einem Mal. Reichlich unelegant schwang er sich auf die Füße und hob nach einem Augenblick des Gleichgewichtausgleichens bedeutungsvoll den Zeigefinger.
„Warte einen Moment“, sprach er, an das Kaninchen gerichtet. „Lauf nicht weg.“
Als wollte es ihm die Überflüssigkeit seiner Aufforderung aufzeigen, klopfte das Tier einmal fest mit dem Hinterlauf. Ein Donnerhall in Runnas Schädel, der das Katzenorchester kurz zum Schweigen brachte, sich dann aber doch noch einfügte und das Stück des Jammers nun ebenfalls begleitete. Es konnte nicht schaden, bei den Medices vorbeizuschauen, zumal er sich ohnehin kurz nach oben begeben würde.
Den Zeigefinger weiterhin hochhaltend, schlich Runna langsam rückwärts Richtung Tür.
„Beweg dich nicht vom Fleck“, mahnte er noch. „Ich bin gleich zurück.“
Dann huschte er nach draußen und verschloss die Tür.
„Lauf nicht weg“, hatte der Zweibeiner gesagt, ehe er Puschkin in dem riesigen Raum alleingelassen hatte.
Also ehrlich! Wo sollte ein kleines Kaninchen wie er, das nicht einmal den Türknauf erreichte, denn schon hin?
Sehnsüchtig dachte Puschkin an die Assistentin seines Zauberers, die ihn stets hegte und pflegte und ihn mit saftigen Möhren versorgte. Wie viele Möhrenknabberlängen er hier wohl würde ausharren müssen, bis das Klingeln ertönte, das den nächsten Auftritt ankündigte?
Vielleicht sollte er wieder zum Sofa zurück, um zu schauen, ob er von dort aus wieder ins Zylinderkabinett zurückkehren konnte. Seiner Erfahrung nach gab es allerdings Orte, von denen gab es kein Zurück, nur ein Vorwärts. Was, wenn dieser Ort auch so einer war?
Nachdem Puschkin bereits immerhin eine ganze Kohlknabberlänge lang hin und her überlegt hatte und doch zu keinem Schluss gekommen war, kehrte der Zweibeiner zurück. Er trug einen Korb, der so lecker duftete, dass Puschkin sich am liebsten hineingelegt hätte.