„Du suchst wen?“, fragte Paolo ihn, als er diesem dunklen Traum von einem Lupion sechs Unterrichts- und zwei Nach- und Vorbereitungsstunden später am Tresen des »Rauen Tons« gegenüberstand, vor sich das mümmelnde weiße Kaninchen. Die Tasche mit den Dokumenten baumelte über seiner Schulter. Der Kellner säuberte ein paar Becher.
„Du weißt schon …“ Runna wedelte mit einer Hand. „Den, der sich gestern Nacht mit uns beiden in den Laken wälzte.“
„Ha!“
Scheppernd hallte das Lachen des Kellners durch den Schankraum.
Zu dieser frühen Stunde waren erst wenige Gäste anwesend. Die auch prompt die Hälse reckten und gen Tresen starrten. Runna konnte es in der vom Nachhall erfüllten Stille regelrecht hören.
„Gestern hast du dich ganz sicher mit niemandem mehr in den Laken gewälzt, mein Lieber“, setzte Paolo zum nächsten Schlag an. „Hast du auch nur den Hauch einer Ahnung, wie betrunken du vergangene Nacht warst?“
Oh ja, hatte Runna.
„Dann erklär mir mal, wie es kommt, dass euer Geruch überall auf meiner Liegestatt verteilt ist.“
Die Menge an Geisthaltigem, die geflossen war, war nämlich nicht das Einzige, woran er sich erinnerte. Mit dem Unbekannten und Paolo eng umschlungen auf dem Sofa gelegen und dort weiter mit ihnen getrunken zu haben, zählte ebenfalls dazu.
„Manchmal“, Paolo dehnte die letzte Silbe, „kann es schön sein, einfach nur zu kuscheln.“
Runna tat das, was unter Lizaro einer hochgezogenen Augenbraue am Nächsten kam; er zog eines seiner unteren Lider nach oben. In solchen Momenten zweifelte er daran, diese gleichwarmen Säuger jemals zu begreifen.
„Wie dem auch sei“, winkte er ab. „Weißt du, wo der Kerl steckt?“
Paolo stützte sich auf den Tresen und schaute Runna tief in die Augen.
„Der `Kerl´, mein Lieber“, knurrte er, woraufhin sich das Kaninchen eng an das Holz des Tresens drückte, „hat einen Namen. Sag bloß, den hast du schon vergessen.“
Runna senkte den Kopf. Statt jedoch auf die Glaubwürdigkeit dieser Demonstration eines schlechten Gewissens einzugehen, wandte sich der Kellner einer Frau zu und nahm ihre Bestellung entgegen.
Das Kaninchen schien sich wieder zu entspannen und wackelte mit den Ohren in alle Richtungen. Dabei schaute es Runna an. Beinahe, als wollte es ihm etwas mitteilen. Wie schon vorhin, als es auf seinen Schoß wollte.
Nein, das war absurd!
Kaninchen können nicht …
Es sei denn …
„Offen gestanden, mein Lieber“, Paolo blickte nicht auf, während er Becher füllte, „weiß ich auch nicht mehr, als dass Oliviero“, den Namen betonte er mit Nachdruck und sah Runna dabei einmal kurz in die Augen, „am Morgen abgereist ist. Wohin er wollte, hat er leider niemandem hier mitgeteilt.“
Runna ließ die Schultern hängen.
„Aber wenn du möchtest“, der Kellner reichte der Frau ihre Bestellung, „kann ich die Tasche für ihn aufbewahren. Oliviero wird sie sicher vermissen.“
Runna reichte sie ihm.
„Und was das Kaninchen angeht“, das Tier duckte sich wieder, weil Paolo sich über es beugte, „so gibt es bestimmt einen ausgezeichneten Braten ab.“
Die Ohren des Kaninchens schnellten senkrecht nach oben und seine Nase zuckte heftig.
„Meinst du nicht“ fragte Runna, „Oliviero könnte etwas dagegen haben, wenn du sein Haustier deinen Gästen auftischst?“
Das Kaninchen drehte den Kopf in seine Richtung. Als hätte es begriffen, dass er sich für sein Leben einsetzte.
„Es gehört Oliviero ohnehin nicht“, winkte Paolo ab.
„Was hatte es dann in seiner Tasche verloren?“
Ein Achselzucken des Kellners.
„Gestern war es jedenfalls noch nicht da. Weder in der Tasche noch in deinem Büro.“ Er tippte sich auf die Nase. „Das hätte ich gerochen.“
Krampfhaft versuchte Runna sich daran zu erinnern, ob es in Olivieros Nähe am gestrigen Abend bereits nach Kaninchen geschmeckt hatte. Dabei stieß er jedoch auf nichts weiter als den hartnäckigen Rest des vormittäglichen Katzenjammers. Er rieb sich den Schädel.
„Es spielt keine Rolle, ob es nun zusammen mit Oliviero ankam oder nicht“, brummte er, „es wird auf keinen Fall als Braten serviert.“
Vor allem nicht, wenn ich fastenzeitbedingt selbst nichts davon habe.
Mit einem Satz sprang das Kaninchen über Runnas Arm, so dass beide Arme es nun wie eine Mauer umschlossen. Dann stellte es sich auf die Hinterbeine und lehnte sich mit beiden Vorderpfoten gegen Runnas Brust. Mit einem verächtlich wirkenden Nasenwackler drehte es den Kopf zu Paolo.
„Wirst du allmählich weichherzig, mein Lieber?“, fragte der. „Sonst sagst du zu einem derart saftigen Stück Fleisch nicht `Nein´.“
In Windeseile drehte sich das Kaninchen von Runna weg, ließ sich kurz auf alle Viere sinken, stemmte sich dann an Paolo gewandt erneut auf die Hinterbeine, versteifte die Ohren und klopfte mit einer derartigen Wut auf den Tresen, dass der Kellner tatsächlich einen Schritt zurückwich.
„Ho, ho“, lachte Paolo, „da hat wohl jemand etwas dagegen, in den Topf zu wandern.“
Allerdings, erkannte Runna.
Dieses Schauspiel erhärtete den Verdacht, der ihn in Bezug auf dieses Tier schon vorhin beschlichen hatte. Er würde es überprüfen müssen. Und er wusste auch schon, wen er dafür um Hilfe bitten konnte.
Runna packte das Kaninchen, klemmte es unter den Arm und verließ den »Rauen Ton«.
Dankbar knabberte Puschkin an einer Möhre.
Der schuppige Magier hatte sie ihm nach ihrer Rückkehr von jenem schrecklichen Ort gereicht, an dem für Puschkins Geschmack viel zu oft von Kaninchenbraten die Rede gewesen war. Danach war der Magier allerdings ziemlich rasch wieder verschwunden. Auf dem Weg hierher hatte er unentwegt davon geplappert, Mahus ausfindig machen zu müssen.
Was ein Mahus war, würde Puschkin sicher bald herausfinden. Die Behausung des Magiers bot nämlich noch allerlei Überraschungen und allmählich begann er den Magier zu mögen. Ein wenig furchteinflößend wirkte er noch immer auf das Zauberkaninchen. Aber nett war er auch. Irgendwie. Es sprach also nichts dagegen, noch ein wenig länger zu bleiben.
Zumal die Möhren delikat waren.
Im Anschluss an seine Mahlzeit hoppelte Puschkin in den hinteren Teil des Raums, zu dem Sofa, unter dem er hervorgekommen war. Was immer der schuppige Magier dort normalerweise aufbewahrte, befand sich offensichtlich an einem anderen Ort. Ob es sich wohl gerade im Zylinderkabinett befand?
Das sollte Puschkin heute wohl nicht mehr herausfinden, auch nicht, was ein Mahus war, denn sehr zu seinem Bedauern hörte er das vor langen Möhrenknabberlängen noch herbeigesehnte leise Klingeln, auf das ein Kitzeln in seiner Nase und ein Rauschen in seinen Ohren folgten.
Eine weitere Zaubervorstellung hatte begonnen und das Zauberkaninchen verschwand aus der ihm noch fremden Welt, um in einer Kiste unter einem Tisch wieder aufzutauchen.